Murr – Vor allem von zwei Situationen berichtet Katrin Haberland, die pädagogische Vorsitzende beim Verein Itzebitz ist. Diese hätten ihr gezeigt, „dass für viele Kinder mittlerweile der tägliche Umgang mit elektronischen Medien normal ist“. Und auch Johann Leitner, Vorsitzender für Verwaltung und Recht, spricht diese beiden Situationen vor fast 500 Zuhörern am Samstagabend in der Murrer Gemeindehalle an: „Ein etwa eineinhalb Jahre alter Junge war sehr angetan von unserem Aquarium, besonders von einem Goldfisch. Lange Zeit hat er die Fische betrachtet und irgendwann folgende Handbewegung gemacht“, und er zieht Daumen und Zeigefinger so auseinander, wie man es macht, um etwas auf einem Smartphone oder Tablet zu vergrößern. „Er wollte durch diese Bewegung am Glas des Aquariums den Fisch vergrößern.“ Eine weitere Begegnung mit einer Mutter, für die es selbstverständlich war, dass ihr zweieinhalbjähriger Sohn ein eigenes iPad hat, habe die Vorsitzenden weiter aufhorchen lassen.
Und so sei klar gewesen: „Wir müssen etwas machen.“ Katrin Haberland sagt: „Kinder müssen begreifen“, und so sei ihr Projekt „Wie geht denn sowas?“ entstanden, in dem es darum gehe, wie Kinder lernen. Ein Teil davon war, dass sie in den Itzebitz-Kinderhäusern mit ihren Mitarbeitern gemeinsam zwei Kisten gepackt hat, die immer abwechselnd ein Kind übers Wochenende mit nach Hause nehmen darf. In den Kisten waren Büroklammern, Rollen aus Pappe, eine Kaffeemühle und Kunststoffflaschen, gefüllt mit Sand, Wasser oder auch Holzperlen. Dazu habe es eine Anleitung gegeben, wie sich die Eltern verhalten sollen, nachdem ihr Kind die Kiste mit dem goldenen Schlüssel geöffnet habe. „Wichtig war uns, dass die Kinder die Kiste alleine erforschen, dass die Eltern die gefürchtete Langeweile der Kinder aushalten und sie ein Aha-Erlebnis haben.“ Eine Fotowand im Foyer dokumentiert, wie einige Kinder diese Kisten erforschten. „Es hat sich schon etwas geändert“, berichtet Haberland erfreut, aber sie weiß: „Das ist ein Prozess.“
Der Vortrag „Zu Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien“ von Wissenschaftler und Buchautor Manfred Spitzer am Samstag ist für Katrin Haberland sozusagen der Höhepunkt ihres Projekts, unterstützt vom Itzebitz-Förderverein und einer Krankenkasse.
Dass es für Eltern schwer ist, bei ihren Kindern und Jugendlichen den verantwortungsvollen Umgang mit elektronischen Medien durchzusetzen, ist Manfred Spitzer bewusst. „Verantwortungsvolle Eltern sagen Nein.“ Er plädiert dafür, dass die Förderung von Sensorik und Motorik ihrer Kinder für Eltern, Kindergärten und Schulen im Vordergrund stehen müssen. „Wer schon im Kindergarten viele Fingerspiele macht, ist nachgewiesenermaßen später besser in Mathematik“, begründet er seine Forderung. Der studierte Mediziner, Psychologe und Philosoph hat sich zum Psychiater weitergebildet und leitet seit 1998 die Psychiatrische Universitätsklinik Ulm. 2004 gründete er das ZNL (Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen) in Ulm. Heute ist er vielen als Buchautor bekannt, der streitbar und engagiert für seinen Standpunkt eintritt.
Nach seinem Vortrag sagt er in der Diskussion, die bereits deutlich an Fahrt aufgenommen hat, an einer Stelle: „Ich kann Ihnen das nicht emotionsfrei erzählen.“ Denn auf Fragen aus dem Publikum, wie man seine Kinder aus der gesellschaftlichen Entwicklung zur Digitalisierung herausnehmen könne und ob Kinder ausgeschlossen seien, die nicht via Smartphone oder WhatsApp mit Klassenkameraden kommunizieren können, rät er trotzdem von der Nutzung elektronischer Medien ab und begründet dies mit etlichen Erkenntnissen aus Studien und Untersuchungen.
Er berichtet, dass in Südkorea die Sucht nach dem Smartphone zum immer größeren Problem wird. Oder dass durch die EU-Datenschutzverordnung, die ab 25. Mai gilt, Schüler-WhatsApp-Gruppen gar nicht mehr so einfach zulässig seien. Er gibt zu bedenken, dass das natürliche Streben nach Akzeptanz und Zugehörigkeit, das alle Menschen haben, durch elektronische Medien nicht befriedigt werde.
Und auf den Einwurf einer Dame aus dem Publikum, einer ihrer Schüler könne durch die Digitalisierung im Unterricht bereits als Fünftklässler programmieren, entgegnet er: „Helmut Schmidt ist auch 96 Jahre alt geworden, obwohl er starker Raucher war. Und trotzdem sagt keiner, rauchen ist unbedenklich.“ Die Tabaklobby habe viele Menschenleben auf dem Gewissen, ähnliches sei heute bei der Lobby der Medienkonzerne zu beobachten, die Einfluss auf Politik und Presse nehme.
Mit Bildern von menschlichen Gehirnen, Neuronen und Synapsen verdeutlicht Spitzer, dass ein Gehirn dringend „in Bewegung sein muss, wie ein Muskel“, um sich zu entwickeln und fit zu bleiben. Das gelte gerade für junge Menschen, deren Gehirn noch nicht vollständig ausgereift sei, genauso wie die Sehkraft der Augen. Durch mangelnde Bewegung, Schlafstörungen und Bluthochdruck, der nachweislich durch die Nutzung elektronischer Medien entstehe, gebe es nicht nur gesundheitliche Probleme, sondern das alles wäre mit ursächlich für die Bildungskatastrophe: „Die Länder, deren Schüler bei Pisa gut abgeschnitten hatten und dann ihren Unterricht digitalisiert haben, sind auf die hinteren Plätze abgefallen.“
(Quelle: Marbacher Zeitung, Andrea Ertl 15.04.2018)